Im Laufe meines Lebens habe ich immer wieder die Erfahrung machen dürfen, dass es eine Sache gibt, die mir zuverlässig auch in schwersten Stunden Trost spendet. Es ist der Aufenthalt im Freien in der Natur. Wobei mit „Natur“ alle die Orte gemeint sind, an denen Pflanzen und Tiere mehr oder weniger unbehelligt leben dürfen. Dass wir in Deutschland praktisch keine unberührte Natur mehr haben, gehört zu den vielfältigen Folgen der menschlichen Zivilisation. Damit ist klar, dass das, was ich im Folgenden beschreibe, nur einen klitzekleinen Ausblick auf das bietet, was unser aller Vorfahren in Vorzeiten auf diesem Planeten erlebt haben müssen.
Hatte ich Liebeskummer, war traurig oder überfordert in einem Alltag voller Anforderungen, half ein Spaziergang über weite Felder und Hügel an den Ausläufern der mittelhessischen Mittelgebirge Taunus oder Vogelsberg. Den Wind zu spüren, das weite Himmelszelt über mir, die singenden Lerchen irgendwo in der Luft über den Ackern. Die so treulich wiederkehrenden Wiesenblumen, die unbedarft und voller Lebensmut jedes Jahr wieder in den herrlichsten Farben die Feldwege schmückten. All das gab mir das Gefühl, dass es da etwas gibt, das größer ist als all unsere kleinen menschlichen Regungen und dass uns alle umfasst wie ein wohliger, warmer Mantel und uns hält in dieser hektischen, überfordernden Welt. War ich ratlos, rastlos oder ängstlich, half der Gang durch einen Wald, in dem die Bäume mit Unerschütterlichkeit dem Wetter über Jahre trotzten und nichts erschien mir zuverlässiger als die Tatsache, dass diese alten Riesen dort stehen und immer stehen werden und uns für immer mit frischer Luft, Schatten, Feuchtigkeit und Duft versorgen. Der Wald wurde zu einem zuverlässigen Begleiter in schweren Tagen für mich. Ich kam stets erfrischt und ermutigt von einem Waldaufenthalt wieder zurück in mein Alltagsleben und hatte jeweils immer wieder etwas mehr Kraft, mich allen Aufgaben, die das Leben mir stellte, zu widmen.
In den letzten Jahren kam durch das Glück, mit den Mietwohnungen, die ich gemietet habe, auch Gärten zur Verfügung zu haben, die aktive Auseinandersetzung mit der Natur in Form von Gartenarbeit hinzu. Selten fühlte ich mich ausgeglichener als nach eine
m Waldspaziergang oder nach einem halben Tag Gartenarbeit. Das Wühlen in der Erde, der Geruch von modernden Blättern, der Wind, das Surren der Insekten, die Düfte von Kräutern und farbenfrohen Blüten, Sonnenflecken auf dem Gras und zwitschernde Vögel ermöglichten mir eine Ahnung davon, dass es da eine Gottheit geben mag, die alles zusammen hält und den Boden bereitet für diese Vielfalt, Schönheit und diesen Überfluss. Ich fühlte mich gehalten und geborgen auf dieser Erde.
Im letzten Sommer hat diese Freude und dieser Trost in meinem Leben einen deutlichen Bruch erfahren. Das intuitive Wissen um die Beständigkeit der Natur ist erschüttert worden. Schon in den letzten Jahren habe ich beunruhigt die zunehmende Trockenheit, die heißer werdenden Sommer, die Katastrophen andernorts und das zunehmende Fichtensterben in den Wäldern beobachtet. Aber meine Gewohnheiten und die Möglichkeit, Kraft und Trost in der Natur zu finden, wurden erst in diesem Sommer das erste Mal regelrecht unmöglich. Zunächst versprach der Sommer ein wundervoller zu werden. Wir gingen häufig an einer Stelle an der Lahn schwimmen, die etwas vertieft war. Diese Momente waren intensive Naturerfahrungen. Einzutauchen in diesen Fluss war wie einzutauchen in die Mutter Erde und Teil des Großen Ganzen zu werden.
Dann kam die Hitze. Es hatte bereits wochenlang nicht geregnet. Die Sonne strahlte unerbittlich und heizte alles auf, was nicht durch Schatten geschützt war. Im Schatten kletterte das Thermometer auf 35 Grad und mehr. Mir machte die Hitze unheimlich zu schaffen, so dass ich mich tagsüber in der verdunkelten Wohnung aufhielt, in der es dann „nur“ 30 Grad warm war. Es gab Tage, da wollte ich mich nicht einmal bewegen, weil ich alles sehr anstrengend fand.
Mein Sommerurlaub, den ich eigentlich für Gartenarbeit und Ordnen der Wohnung vorgesehen hatte, bestand sodann aus untätigen Tagen in der Wohnung und abends in der Lahn. Als mich dann die Nachricht erreichte, man solle lieber nicht mehr in Gewässern baden, da diese ebenfalls unter der Trockenheit stark litten, wurde mir klar, dass sich etwas unwiederbringlich geändert hatte: meine wunderschöne und kraftvolle Begleiterin, die Natur, gab es nicht mehr so, wie ich sie kannte. Bäche trockneten aus, Fische, Blumen, Vögel und Bäume starben. Die Gartenarbeit bestand im Wesentlichen nur noch daraus, den Garten zu wässern. Der Aufenthalt im Garten war wegen der sengenden Hitze alles andere als ein Vergnügen. Die Terrasse war unerträglich heiß und wurde daher kaum noch genutzt. Im Lahn-Dill-Kreis sah ich auf Bergen riesigen Kahlschlag. Der Anblick hat etwas Apokalyptisches. Ja, es sind Fichten-Monokulturen gestorben. Dennoch macht es mich unfassbar traurig, dass diese Lebewesen alle auf so schnelle Art und Weise gehen mussten und eine wüstenähnliche Landschaft hinterließen.
Ich erlebte Resignation und sehr viel Trauer. Plötzlich hatte ich keine Freude mehr an dem Garten. Plötzlich erschien mir die Welt ein Stück trostloser und dunkler als ohnehin schon in diesem düsteren Jahr 2022.
Ich lernte bei meinen Internet-Recherchen zum Klimawandel den Begriff „Eco-Grief“ (ökologische Trauer) kennen. Das was ich erlebte, hatte also bereits einen Namen und es wurde darüber geschrieben und gesprochen. Es tat gut, zu sehen, dass es anderen ähnlich erging und ich mit meinem Erleben offenbar nicht alleine war. Es wurde gesagt, dass Eco-Grief uns helfen könnte, den Planeten bzw. uns Menschen auf diesem Planeten zu retten. Dennoch ließ es mich ratlos zurück.
Wie sollen wir damit umgehen, dass, das was uns unser Überleben sichert, zunehmend spürbar in Gefahr gerät und an vielen Stellen einfach stirbt?
Obwohl ich seit meiner Jugend vom Klimawandel weiß und all mein Handeln danach ausgerichtet habe, möglichst wenig dazu beizutragen, sondern das Klima eher noch zu schützen, konnte ich wenig ausrichten. Und auch all die anderen lieben Menschen in meinem Umfeld und anderswo, die sich aktiv für eine gesunde Erde einsetzen, konnten nicht verhindern, dass sich die Lobby der Fossilen Industrie durchgesetzt hat und eine ungeheure Macht über unser Leben gewonnen hat.
In Marburg gab es vor etwa 100 Jahre bereits eine elektrisch betriebene Straßenbahn. Sie wurde damals wieder abgebaut, um dem Autoverkehr Platz zu machen. Das ist symptomatisch für das, was auf der ganzen Welt in den letzten 100 Jahren passiert ist. Die Industrie, unser aller Leben, die gesamte Wirtschaft ist kollektiv auf eine Abhängigkeit von fossilen Energien ausgerichtet worden. Besonders stark habe ich das in den letzten Jahren gespürt, wenn ich nach Mitteln und Wegen gesucht habe, emissionsfrei meine alltäglichen Wege zurück legen zu können: ein Unterfangen, das mir im ländlichen Raum, in dem ich lebe, nie geglückt ist. Ich kam immer wieder darauf zurück, dass ich ein Auto benötige, um meinen Alltag einigermaßen sinnvoll bewältigen zu können. Dies nur als Beispiel für die Abhängigkeit von fossiler Energie. Die Abhängigkeit von fossiler Energie haben wir durch den verbrecherischen Angriffskrieg von Russland gegen die Ukraine außerdem im letzten Jahr überdeutlich vor Augen geführt bekommen.
Dass ich als einzelner Mensch diesem Prozess so hilflos ausgeliefert bin, der durch die Menschheit in Gang gesetzt wurde und der jetzt und in den kommenden Jahren mit atemberaubender Geschwindigkeit unsere Natur, so wie wir sie kennen, zerstören wird, löst vielfältige Emotionen wie Angst, Trauer, Wut und Bitterkeit aus. Wir verlieren das Erbe unser Vorfahren, das Eingebettetsein in das Große Ganze, den Trost von Mutter Erde.
Diese Hilflosigkeit wirkte sich teilweise lähmend auf mich und meine Handlungsbereitschaft aus. Gleichzeitig treibt mich die Wut an, mich für aktiven Klimaschutz, die Energiewende und die Umstrukturierung unseres Wirtschaftssystems einzusetzen. Und das ist gut so.
Wie können wir mit diesen Gefühlen umgehen?
Ich bin von meinem Wesen her im Grunde optimistisch und suche immer nach der positiven Seite. Was kann helfen, mit dem Verlust von Natur umzugehen? Auf den ersten Blick erscheint mir das geradezu unmöglich, aber es ist es eben nicht.
Wie immer, wenn wir belastende Emotionen erleben, haben wir drei Möglichkeiten:
Vermeidung/Flucht/Verdrängung/Leugnung
Panik/Erdulden/Leiden/“Doomism“
Kampf/Rebellion/Aktivität.
Viele Menschen verdrängen oder leugnen gar die Klimakatastrophe, weil sie die von mir beschriebenen Emotionen nicht zulassen können oder wollen. Andere verfallen in einen Panikmodus und schreien hysterisch den Weltuntergang herbei. Ich habe mich dafür entschieden, in den Kampf zu gehen und mich aktiv gegen das Fortschreiten der Klimakatastrophe zu engagieren. Dafür muss ich mich diesen Emotionen immer wieder stellen, aber sie helfen mir auch dabei, einen konstruktiven Weg im Umgang mit der Katastrophe zu finden. Gleichzeitig ist es legitim, diese Gefühle und das gesamte Thema Klimawandel immer wieder auch bei Seite zu stellen und sich auf das Hier und Jetzt und die alltäglichen Anforderungen zu konzentrieren.
Ich habe außerdem Folgendes für mich gefunden, vielleicht ist dies auch für andere hilfreich:
Es hilft, eine andere Perspektive einzunehmen, den Blick zu weiten und den Wandel zu akzeptieren. Ja, die Natur, wie ich sie kenne, wird zu großen Teilen sterben. Aber da, wo etwas stirbt, entsteht immer etwas Neues. Es werden neue Arten kommen, Natur wird sich anpassen. Und letztlich dürfen wir begreifen, dass auch der Mensch mit seiner Technologie ein Teil der Natur ist. Die Natur organisiert sich immer selbst. Die Evolution läuft immer weiter. Erweist sich etwas als Sackgasse, wird es nicht fortgeführt. Das, was Zukunft hat, überlebt, wird stärker, differenziert sich aus. Es gibt neue Sackgassen und neue Zweige, die wachsen. Es hilft, den Blick zu weiten, und sich klar zu machen, dass unsere persönliche Welt, wie wir sie kennen, sehr klein und unbedeutend ist. Es ist so unendlich Vieles möglich. Und selbst wenn viele von uns sterben sollten: die Erde wird sich weiter drehen, der Geist unserer Vorfahren, unsere Kultur, unsere Natur wird in einer anderen Form weiter leben. Alles wird sich wandeln, und dieser Wandlungsprozess bietet die Chance, dass Wunderbares, Großartiges, Schönes neu entsteht. Wie die Natur sich regeneriert, kann man in der Region des AKW Tschernobyl sehen, wo sich nach der Katastrophe im Jahr 1986 Teil der Natur erholt haben und sich ein reges Leben von Wildtieren und -pflanzen entwickelt hat.
Der Klimawandel mit seinen Begleiterscheinungen konfrontiert uns mit unserer eigenen Endlichkeit und Zerbrechlichkeit und das kann sehr schmerzhaft sein. Gleichzeitig weist uns genau das darauf hin, was uns wichtig ist und wie wertvoll unser Leben uns ist.
Ich möchte daher im kommenden Jahr meinen Fokus mehr darauf richten, was ich Wertvolles bereits habe und das Zerbrechliche so gut es geht zu bewahren und gleichzeitig das loszulassen, was gehen muss und nicht bleiben kann und was ich trotz aller Anstrengungen nicht festhalten kann.
Ich versuche außerdem, die Hilflosigkeit und Wut in konstruktive Handlungen umzuwandeln:
- Ich habe im letzten Jahr ein E-Auto gekauft und bin dankbar für diese technologische Weiterentwicklung, die den umweltschädigenden Aspekt der Mobilität etwas abmildert.
- Ich trete wieder neu in ein solidarisches Landwirtschaftsprojekt ein, in dem ich bereits einmal Mitglied war. Dort kann in einem kleinen Rahmen eine klimaresiliente Landwirtschaft ausgelotet, regionale Produktionsprozesse unterstützt und Lieferwege sowie damit verbundene Emissionen reduziert werden.
- Ich halte nach Möglichkeiten Ausschau, mich selbst mehr für eine rasche und erfolgreiche Energiewende aktiv einsetzen zu können und staune über die technologischen Weiterentwicklungen.
- Ich übe mich bei Waldspaziergängen in Dankbarkeit, dass doch so viele Bäume und Pflanzen den letzten Sommer überlebt haben.
- Ich weite immer wieder den Blick und lasse den Wandel in mir und außerhalb meiner Selbst aktiv zu.
- Ich höre auf, mich mit Menschen darüber zu streiten, ob es überhaupt einen menschengemachten Klimawandel gibt.
- Ich engagiere mich bei Psychologists for Future, um meine Fachkompetenz bestmöglich einbringen zu können.
- Ich akzeptiere und lasse die Trauer darüber zu, dass es mehr Katastrophen, Zerstörung, flüchtende Menschen und Tod geben wird und dass ich dies nicht direkt verhindern kann.
- Und ich überlege, einen Zitronen-, Orangen- oder Olivenbaum für die Terrasse anzuschaffen.
Auf diese Weise wird ein Leben in und mit der Natur trotz dieser unfassbaren Herausforderungen, die die heutige Zeit für uns bereit hält, möglich werden.
Was wirst Du tun, um mit Eco-Grief aktiv und konstruktiv umzugehen?
Weiterführende Informationen zu diesen Themen findest Du unter folgenden Links:
Klimagefühle – Psychologists for Future
Eco-Grief and Ecofeminism | Heidi Hutner | TEDxSBU – YouTube
How eco-grief will help us save ourselves – Rupert Read – YouTube
„Klimagefühle – Wie wir an der Umweltkrise wachsen statt zu verzweifeln“ – YouTube
Startseite :: Netzwerk Solidarische Landwirtschaft (solidarische-landwirtschaft.org)